Warum wir einen europäischen Bundesstaat brauchen

Für ein handlungsfähiges Europa

Die Nationalstaaten stoßen insbesondere vor dem Hintergrund der voranschreitenden Globalisierung in vielen Bereichen an die Grenzen ihres politischen Gestaltungsspielraums.

Gemeinsame Herausforderungen bedürfen gemeinsamer Lösungen.

Viele Herausforderungen unserer Zeit wie die Regulierung von Unternehmen und Finanzmärkten, die Nutzung der Chancen der Digitalisierung, der Datenschutz oder die Aufnahme von Flüchtlingen lassen sich nicht mehr sinnvoll auf nationaler Ebene, sondern nur noch gemeinsam auf europäischer Ebene lösen. Besonders augenfällig ist dies im Bereich der Außenpolitik: Angesichts des Entstehens einer multipolaren Weltordnung mit neuen Mächten wie Indien und China sind selbst große EU-Mitgliedsstaaten zu klein, um ihre Interessen in der internationalen Politik erfolgreich vertreten und weltpolitisch Verantwortung übernehmen zu können. Manche Herausforderungen wie z.B. die Bekämpfung des Klimawandels lassen sich sogar nur global lösen. Gerade in diesen Fragen ist es entscheidend, dass Europa mit einer Stimme spricht. Die Beispiele verdeutlichen: Gemeinsame Herausforderungen bedürfen gemeinsamer Lösungen. Diese Formel macht für uns Föderalist:innen auch den Wesenskern des Föderalismus aus.

Die Europäische Union jedoch verfügt in ihrer derzeitigen Struktur nicht über die notwendigen Kompetenzen, um diese Herausforderungen meistern zu können. Dass Teile der Bevölkerung der EU kritisch oder sogar ablehnend gegenüberstehen, liegt auch darin begründet, dass die EU in den vergangenen Jahren oft nicht in der Lage war, auf Krisen und politische Entwicklungen schnell und entschlossen zu reagieren und deren Ursachen zu begegnen. Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise beispielsweise hat Europa in besonderem Maße getroffen und damit schmerzhaft deutlich gemacht, dass zwischenstaatliche Lösungen Krisen nur verzögern anstatt sie zu bewältigen. Um den Stillstand in der EU zu überwinden, müssen wir die europäische Ebene mit jenen Kompetenzen ausstatten, die sie braucht, um handlungsfähig zu sein.

Wir fordern einen europäischen Bundesstaat, damit Europa handlungsfähig wird.

Für eine europäische Demokratie

Der Europäische Rat – das Machtzentrum der EU – unterliegt keinerlei parlamentarischer Kontrolle auf europäischer Ebene. (Bildnachweis: “Special Meeting of the European Council (Art. 50)” von European Council; CC BY-NC-ND 2.0)

Viele EU-Bürger*innen haben das Gefühl, dass sie auf die Entscheidungen, die auf europäischer Ebene getroffen werden, keinen Einfluss haben; ja, dass sie noch nicht einmal die grundlegende Richtung der europäischen Politik mitbestimmen können. Zwar können sie alle fünf Jahre bei den Europawahlen die Abgeordneten des Europäischen Parlaments wählen, das sich im Laufe der Jahrzehnte immer mehr Kompetenzen erkämpft hat und mittlerweile in vielen Politikbereichen gleichberechtigt mit dem Ministerrat an der Gesetzgebung beteiligt ist. Auch muss das Parlament zu Beginn der Legislaturperiode die Europäische Kommission durch ein positives Votum bestätigen, welche wiederum die einzige Institution ist, die Gesetzesinitiativen vorschlagen kann. Doch es ist weder das von den europäischen Bürger*innen gewählte Parlament noch die von diesem zu bestätigende Kommission, die die Leitlinien der europäischen Politik bestimmen. Das eigentliche Machtzentrum der EU ist der Europäische Rat der Staats- und Regierungschef*innen. Damit kommt die Führungsrolle einem Organ zu, auf dessen Zusammensetzung die Bürger*innen keinen direkten Einfluss haben, das keiner europäischen parlamentarischen Kontrolle unterliegt und in dem es keine Unterteilung in Regierung und Opposition gibt. Dies ist Ausdruck eines grundlegenden Demokratiedefizits der Europäischen Union.

Dem Institutionengefüge der EU mangelt es an dem für Demokratien so wichtigen Wechselspiel aus Regierung und Opposition.

Auch das Europäische Parlament als Vertretung der Bürger*innen lässt eine solche Politisierung vermissen, die unterschiedliche politische Konzepte deutlich werden ließe und erkennbar machen würde, welche Politiker*innen und Parteien für welche Politik verantwortlich sind. Dem Institutionengefüge der EU mangelt es an dem für Demokratien so wichtigen Wechselspiel aus Regierung und Opposition. Es fehlt an einer europäischen Regierung, die die politische Richtung vorgibt und die ihre Legitimation aus einer bei der Parlamentswahl errungenen Mehrheit der Stimmen der Bürger*innen schöpft. Es fehlt an einer ihr gegenüberstehenden Opposition, die die Arbeit der Regierung kritisch begleitet, Alternativen aufzeigt und Missstände anprangert.

Das politische System der EU ist vielmehr darauf ausgelegt, im Sinne eines größtmöglichen Kompromisses möglichst viele Akteure in den politischen Entscheidungsfindungsprozess einzubeziehen – notfalls auch auf Kosten der Geschwindigkeit von Entscheidungen. Dies ist unproblematisch, solange es nur um die Harmonisierung von bereits bestehenden nationalstaatlichen Regularien geht, die mehr oder weniger technischer Natur sind. Sobald aber externe Herausforderungen Fragen aufwerfen, die schnelle Richtungsentscheidungen notwendig machen, führt ein solches System zur Lähmung und der Verschleppung von Krisen. Schlimmer noch: Die Maxime des größtmöglichen Kompromisses hat zur Folge, dass für die Bürger*innen nicht mehr klar erkennbar ist, wer für welche Politik verantwortlich ist, und dass getroffene politische Entscheidungen als alternativlos erscheinen. Da es sich aber häufig um Fragen handelt, auf die es keine eindeutig richtigen oder falschen Antworten gibt und die damit risikobehaftet und hochpolitischer Natur sind, führt diese Kombination aus Verantwortungsverwischung und Alternativlosigkeit bei gleichzeitiger Handlungsunfähigkeit zu einem Vertrauensverlust in die Demokratie. Bürger*innen, die mit der Politik der EU nicht einverstanden sind, bleibt als einzige Alternative, sich in Frontalopposition zu begeben und sich gegen die EU als Ganzes zu stellen.

Dass die Stärkung der demokratischen Legitimation europäischer Politik dringend notwendig ist, zeigt ein weiteres, gravierendes Problem: Aufgrund der dominanten Rolle, die die nationalen Regierungen und insbesondere die Staats- und Regierungschef*innen derzeit bei Entscheidungen spielen, bestimmen die Politiker*innen eines Landes maßgeblich die Politik anderer Länder mit. Dieser Einfluss reicht bis hin zu haushaltspolitischen Fragen und grundlegenden politischen Richtungsentscheidungen. Das aber bedeutet, dass Bürger*innen von Entscheidungen von Politiker*innen betroffen sind, an deren Wahl sie nicht beteiligt gewesen sind.

Der Europäische Rat, der de jure keine gesetzgeberischen Kompetenzen hat, greift de facto tief in die Gesetzgebung ein.

Mit besonderer Sorge beobachten wir als JEF, dass die Macht der Regierungen in Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise stetig gewachsen ist und mehr und mehr weitreichende Entscheidungen auf intergouvernementaler Ebene getroffen werden – teilweise sogar außerhalb der Institutionen der EU. Damit entzieht sich die europäische Politik in zunehmendem Maße der parlamentarischen Kontrolle. Der Europäische Rat, der de jure keine gesetzgeberischen Kompetenzen hat, greift de facto tief in die Gesetzgebung ein. Durch diese schleichende Kompetenzverschiebung von Parlamenten zu Regierungen wächst das europäische Demokratiedefizit weiter. Das Europäische Parlament wird umgangen, die nationalen Parlamente vor vollendete Tatsachen gestellt. Ziel muss es daher sein, Entscheidungen dieser Art in die Hände transnationaler, demokratisch legitimierter und dem europäischen Gemeinwohl verpflichteter Institutionen zu legen.

Mit der unzureichenden Handlungsfähigkeit einerseits und dem Demokratiedefizit andererseits weist die Europäische Union zwei grundlegende Mängel auf, die den Fortbestand der EU gefährden, da auf der einen Seite Probleme nicht gelöst werden können und auf der anderen Seite ein Vertrauensverlust bei den Bürger*innen entsteht. Deshalb gilt es, diese Mängel durch eine grundlegende Neuordnung der Strukturen hin zu einem handlungsfähigen und demokratischen europäischen Bundesstaat zu überwinden. Dabei sind beide Punkte eng miteinander verknüpft: Ein Mehr an Europa setzt zugleich auch ein Mehr an Demokratie und Transparenz voraus.

Wir fordern einen europäischen Bundesstaat, damit aus einem Zusammenschluss von Staaten eine supranationale europäische Demokratie wird.

Für einen gesamteuropäischen Diskurs

Aufgrund der starken Rolle des Europäischen Rates und der schwachen Politisierung des Europäischen Parlaments gibt es für die Medien kaum Anknüpfungspunkte für die Berichterstattung über die Arbeit des Parlaments, kaum kontroverse Themen, die man aufgreifen könnte. Es fehlt an Personen aus Kommission und Parlament, die Kraft ihrer Position über maßgeblichen Einfluss verfügen und an denen sich unterschiedliche politische Vorstellungen festmachen ließen. Erst durch Politiker*innen aber, die abstrakte Politik transportieren, wird diese für die Bürger*innen greifbar.

Die Struktur des politischen Systems bestimmt die Form des öffentlichen Diskurses.

Dieser Mangel führt zwangsläufig dazu, dass der Fokus der Berichterstattung in erster Linie auf dem Europäischen Rat und damit nicht auf unterschiedlichen politischen Konzepten, sondern auf nationalen Gegensätzen liegt. Dieser Blickwinkel jedoch, der suggeriert, Nationalstaaten seien monolithische Blöcke, verschleiert die eigentliche Natur von politischen Entscheidungen und schadet damit dem europäischen Geist. Es ist also die Struktur des politischen Systems, die die Form des öffentlichen Diskurses bestimmt und damit die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit verhindert.

Wir fordern einen europäischen Bundesstaat, damit wir europaweit gemeinsam darüber diskutieren, welche Wege wir politisch einschlagen wollen.

Für eine Vollendung des europäischen Projekts

Die Weiterentwicklung der EU zu einem europäischen Bundesstaat ist die logische Fortsetzung der bisherigen historischen Entwicklung der europäischen Integration. Die Vernetzung Europas nimmt in gesellschaftlicher sowie wirtschaftlicher Hinsicht immer weiter zu. Was heute in einem Mitgliedsland entschieden wird, hat demnach immer auch Auswirkungen auf die Bürger*innen anderer Mitgliedsländer. Darüber hinaus nimmt auch die wechselseitige Abhängigkeit zwischen verschiedenen Politikbereichen, für die derzeit mal die Mitgliedsstaaten, mal die EU zuständig sind, immer weiter zu. Nur ein europäischer Bundesstaat mit starken Kompetenzen erlaubt es, die vielfältigen Abhängigkeiten bei der Gestaltung von Politik zu berücksichtigen und den gemeinsamen Binnenmarkt um eine umfassende gemeinsame Politik zu ergänzen. Auf diese Weise können auch die historisch bedingten ökonomischen und sozialen Ungleichheiten verringert werden – etwas, was die bloße Existenz eines europäischen Binnenmarktes nicht zu erreichen vermochte.

Die Schaffung eines europäischen Bundesstaates, in dem die Teilstaaten nach dem Prinzip der Subsidiarität weiterhin über eigene Kompetenzen verfügen, erlaubt es, Handlungsfähigkeit nach Innen und Außen, demokratische Strukturen und einen gemeinsamen Diskursraum, die Wahrung europäischer Vielfalt und einen effektiven Schutz von Minderheiten auf Basis gemeinsamer Werte miteinander zu verbinden.

Wir fordern einen europäischen Bundesstaat, um das historische Projekt der europäischen Einigung zu vollenden.

Über die Entstehungsgeschichte des Textes

Dieser Text entstand als Antrag auf Änderung des Politischen Programms der JEF Deutschland zum Bundeskongress 2017 in Bremen. Er hat in weiten Teilen Eingang ins Politische Programm gefunden, das Du hier herunterladen kannst. Antragsteller waren die damaligen Landesvorstandsmitglieder der JEF Hessen Marcel von Collani, Steven Schwarz, Julia Kaesemann, Thomas Ponier-Kröhl und Jonathan Weide.